Ungesagtes.

Meine Grossmutter sagte oft den Satz „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Als Fünfzehnjähriger interpretierte ich das als höfliche Aufforderung, still zu sein. Sie kam noch aus einer Generation, bei der beim Abendbrot nicht gesprochen wurde. Eine Sitte, deren Logik mir entging, auch heute noch. 

Den Silber-Gold-Vergleich hingegen verstand ich eines Abends auf meinem Balkon. Ich habe verstanden, dass ich ihn all die Jahre falsch verstanden habe. Er bedeutet, dass Ungesagtes meist mehr sagt als Gesagtes. Dieses Gefühl hatte ich schon immer, bewusst war es mir aber nie. 

Heute Mittag besuchte ich mit einer Freundin einen Park. Wir sprachen über Bücher, rauchten Zigaretten, tranken Wein. „Es regt zum Denken an“, lautete ihr Fazit zu einem meiner Lieblingsbücher. Sie hatte recht. Aber wieso musste sie es aussprechen?

Ich habe diesen Satz schon oft gehört. Und er löst jedes Mal ein Gefühl aus, das irgendwo zwischen Fremdscham und Selbsthass pendelt. Fremdscham, weil der Satz komplett inhaltslos ist, die aussprechende Person aber klug erscheinen lässt. Zumindest bis sie die Frage „Wieso denn?“ beantworten muss. Selbsthass, weil ich den Zyniker in mir verachte. Diese leise Stimme, die mir ein Gefühl der Überlegenheit geben will. Indem ich die Aussage als kindlichen Versuch, klug zu wirken, spöttisch von oben herab abtue, und dadurch mein fragiles Ego auf eine höhere Stufe hebe. Gründe, wieso ich das tun sollte, geschweige denn eine Berechtigung, gibt es keine.

Dieser Moment und diese Gefühle begleiteten mich den ganzen Tag. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. In meinen Augen hätte das an diesem Mittag zugetroffen. Doch darf ich, der einer Freundin, die eine Konversation führen will, in meinem Kopf mit Spott begegnet, der Richter darüber sein?

Eine Freundin, die mich zu Mittag einlädt, sich für mich und meine ausschweifenden Geschichten interessiert, deswegen im Stillen abzustempeln — ich will nicht diese Art von Mensch sein. Das hat mich zum Denken angeregt. Ironisch, nicht? Was gehört ausgesprochen, was nicht? Und wer richtet darüber? Eine Antwort habe ich keine, vielleicht existiert sie auch nicht.

Mit Freunden, Fremden, Abende in Bars, Nachmittage in Cafés. Geschichten austauschen, einander inspirieren, interessieren. Das ist ist leben. Sprechen ist leben. Und doch gibt es noch diese anderen Momente. Wortlose.

Sie, die während sie passieren den Abschied mit sich tragen. Die man länger vermissen wird als sie andauern. Es sind die Momente, die den ödesten grauwandigen Meetingraum bunter machen, Momente die mich während einer Geiselnahme beruhigen können. Stumme Augenblicke die mich anlachten, ermutigten und neckten.

Ich mag diese Momente, vielleicht sind sie sogar meine liebsten. Sie schaffen es, ohne Worte einen Raum aufzuhellen — auch wenn das vielleicht nur in meinem Universum so war. Sie bedeuten mir die Welt. Sie geben mir Mitgefühl, Anteilnahme, machten mich glücklich und vernichteten mich tagelang. Ohne auch nur ein Wort.

Gesagtes geht vergessen, ist egal. Diese Momente hingegen bleiben dort, wo sonst niemand hinkommt.

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Der erste Funken des Tages.