Der erste Funken des Tages.

Lieber Zeitungkasten

Gleich vis-à-vis des Kiosks ist dein Zuhause, gut geschützt unter den Bögen der Berner Lauben. Hier stehst du, jeden Tag, immer an derselben Stelle, mitten im Strom der Eiligen, der müden Augen und der gedankenverlorenen Blicke. Du bist klein, fast unscheinbar, und doch – du kannst nicht übersehen werden. Deine leuchtenden Farben ziehen die Aufmerksamkeit auf sich, fast als wolltest du schreien «Schaut her, hier beginnt der Tag, hier wird die Welt erklärt.»

Und so bleibst du im Gedächtnis hängen, nicht als blosses Objekt am Strassenrand, sondern als feste Grösse in der ach so langweiligen Routine des Alltags. Noch bevor ich meinen ersten Schritt ins Büro gesetzt habe, hast du mir längst die Nachrichten des Tages unter die Nase gerieben. Schlagzeilen, die sich in den Kopf brennen wie die Melodie eines Liedes, das man nicht mehr loswird. «Skandal in der Politik!», «Das Wirtschaftsdrama geht weiter!», «Ein Promi im freien Fall».

Du, kleiner Kasten, bist mehr als ein stummer Begleiter. Du bist der erste Hauch von Drama, der erste Funken, der die Gespräche des Tages entflammt. Schon von weitem sehe ich, wie Menschen vor dir stehen bleiben, verstohlen auf dich blicken, das Handy zücken, um mehr darüber zu erfahren, was du ihnen gerade mit deinen grossen, fetten Lettern entgegenschleuderst. Im Kaffee um die Ecke sitzen sie dann, die Köpfe gesenkt über ihren Zeitungen und Bildschirmen, die Augen wachgerüttelt von dem, was du ihnen präsentiert hast.

Mittags, wenn die Büros sich leeren und die Menschen sich an Tische setzen, bist du das unsichtbare Glied, das ihre Gespräche zusammenhält. «Hast du das schon gehört?», fragen sie sich. «Was denkst du darüber?». Die Diskussionen beginnen leise, doch ehe man sich versieht, haben deine Schlagzeilen die Gemüter erhitzt. Eine Debatte entsteht, Meinungen prallen aufeinander, und aus dem, was nur ein kurzer Blick auf dich war, wird ein Thema, das den ganzen Tag über bleibt.

Aber, lieber Zeitungskasten, du bist auch der leise Zerstörer. Wie oft hast du mit deinen scharfen Worten Themen angeschnitten, die vielleicht besser im Dunkeln geblieben wären? Wie oft haben deine Schlagzeilen das Leben der Menschen auf den Kopf gestellt? Manch ein Paar hat sich in den letzten Wochen an dir vorbeigeschoben, Seite an Seite, bis du mit einem einzigen Satz zwischen sie getreten bist. «Affäre!» stand da geschrieben, und plötzlich wurden aus vertrauten Blicken fragende Augen. «Würdest du das machen?», flüstert die eine, während die andere Person den Blick senkt. Beziehungen, die wie ein festes Fundament schienen, begannen unter deinen Worten zu bröckeln.

Doch dafür kann man dir keinen Vorwurf machen. Du bist nicht der Schöpfer des Inhalts, nur sein Verkünder. Wie der Gott Hermes, der die Botschaften vom Olymp den Sterblichen überbrachte, erzählst du einfach nur, was geschehen ist, ungeachtet der Konsequenzen. Und trotzdem spüre ich manchmal, wie deine unscheinbare Präsenz eine unsichtbare Macht über die Menschen ausübt. Du bist die erste Seite des Tages, die Grundlage für alles, was kommt.

Und so beeinflusst du uns alle, mal subtil, mal mit voller Wucht. Du bringst uns zum Reden, zum Streiten, zum Nachdenken. Du füllst die leeren Minuten, die sonst nur von Stille geprägt wären. Ohne dich wäre der Alltag ärmer, die Welt stiller, und die Gespräche, die uns durch den Tag begleiten, weniger lebendig.

Trotz deiner starren Form, deiner fest verankerten Position am Strassenrand, bist du in ständiger Bewegung. Jeden Tag ein neuer Anfang, jede Schlagzeile eine neue Geschichte. Du bist der stille Beobachter, der unaufhaltsame Erzähler, der kleine Riese, der jeden Morgen mit einem lauten «Schaut her!» beginnt. Und deswegen, lieber Zeitungskasten, kann ich nicht umhin, dir meine Bewunderung auszusprechen. Du bist der erste Gesprächsstoff des Tages, der uns alle aufweckt, der uns verbindet und trennt zugleich. Ohne dich wären unsere Mittagstische stiller, die Tramfahrt eintöniger, und ja, vielleicht sogar das eine oder andere Paar noch zusammen.

Mit aufmerksamem Gruss
Ein vorbeiziehender Pendler

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